Digitalisierung

Partizipation

11’521 digital-demokratische Schritte für einen modernen Lenzburger Wald

Wie erfährt eine Gemeinde, was ihren Einwohnerinnen und Einwohnern wirklich wichtig ist? Die Stadt Lenzburg setzte dafür in Zusammenarbeit mit CitizenTalk, der Ostschweizer Fachhochschule (OST) sowie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) auf Schwarmintelligenz, Algorithmen und Sozialwissenschaft.

05.10.22


Ruhe oder Action? Bike-Trails oder Sitzbänke? Naturnähe oder Outdoor-Freizeitpark? Alles so belassen, wie es ist? Auf der Suche nach der Zukunft des Lenzburger Waldes wollten sich der Lenzburger Stadtrat und die Ortsgemeinde nicht nur auf den üblichen politischen Aushandlungsprozess verlassen. Die Bevölkerung sollte die Gelegenheit bekomme, sich direkt zu äussern, lange bevor konkrete Projekte diskutiert und geplant werden.

So kam es, dass Besucher im Lenzburger Wald im Juni von Informationstafeln begrüsst wurden. Ein kurzer Scan eines QR-Codes auf der Tafel genügte, um via der App Citizentalk an einer vierwöchigen digitalen Diskussion teilzunehmen. Bedenken, dass der digitale Prozess Ältere ausschliessen könnte, bestätigten sich nicht. Die Auswertung der Nutzerangaben zeigt: Der Grossteil der rund 300 aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmer gab an, zwischen 40 bis 70 Jahre alt zu sein.

Während vier Wochen im Sommer konnte sich die Öffentlichkeit digital in die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Lenzburger Waldes einbringen. Die genutzte App CitizenTalk nutzt hierfür moderne Algorithmen in Kombination mit sozialwissenschaftlichen Methoden, um die digitale Demokratie in der Hosentasche möglich zu machen.

Wie funktioniert digitale Meinungsbildung?

Die Teilnehmenden konnten nicht nur aus den 15 ursprünglichen vom Projektteam angebotenen Ideen für die Zukunft des Waldes auswählen, sondern auch eigene Ideen einbringen. «Wir wollten ein breites Meinungsbild als Basis für die Entscheide schaffen, die die Zukunft unseres Waldes prägen werden», so Lenzburger Vizestadtammann Andreas Schmid, der zusammen mit Stadtoberförster Matthias Ott die treibende Kraft hinter dem Projekt war.

Dafür wurden die Ideen in einer Art Online-Duell-Roulette – von einem Live-Algorithmus nach statistischen Methoden moderiert – so lange gegeneinander abgewogen, bis klar war, welche Anliegen den grössten Rückhalt unter den Nutzerinnen und Nutzern haben. Verifiziert wurde die digitale Meinungsbildung von einem an der OST entwickelten Algorithmus, der nach mathematisch-statistischen Prinzipien arbeitet.

«Es ist zum Beispiel möglich, dass auch kurz vor dem Ende des Prozesses noch neue Ideen eingehen, die dann durch gezielte Duell-Paarungen direkt gegen die aktuell führenden Ideen antreten müssen – setzen sie sich dabei durch, können auch sehr knapp vor Schluss eingereichte Vorschläge noch hohe Bewertungen erreichen und in den Top-Rankings landen», erklärt Lin Himmelmann, der den Algorithmus entwickelt hat. Bei komplexen Fragestellungen könne zudem ein menschlicher Moderator ergänzend unterstützen – etwa, um sehr ähnliche, aber unterschiedlich formulierte Ideen (Duplikate) für die Ideen-Duelle zusammenzufassen.

213 neue Ideen, 11’521 Abstimmungs-Duelle

Die Idee, bei öffentlichen Meinungsbildungsprozessen via App auf die Schwarmintelligenz der Bevölkerung zu setzen brachten nicht nur 213 eigene Ideen ein, sondern fütterten die App auch insgesamt 11’521 Mal mit konkreten Meinungsäusserungen zu den Idee-Duellen. Diese aktive Teilnahme hat es erlaubt, zuverlässig die Anliegen zu identifizieren, die den grössten Rückhalt bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern geniessen.

Drei Bereiche, 30 Favoriten

Insgesamt kamen in den drei gefragten Bereichen «Infrastruktur», «Bedürfnisse» und «Aktivitäten» 30 Favoriten zusammen. Um die 30 Favoriten unter den mehr als 200 Ideen zu ermitteln, arbeitet in der App eine komplexe Methodik bestehend aus dem Meinungsbildungskonzept, dem Algorithmus und den sozialwissenschaftlichen Auswertungen.

Die Auswertungen geben einen tiefen Einblick, wie die Menschen den Wald heute wahrnehmen und nutzen. So gehen etwa die meisten in den Wald, um die Natur zu beobachten und zu geniessen und wünschen sich einen sauberen, möglichst naturnahen Wald.

Die nächsten Schritte?

Wie es in Zukunft konkret mit dem Lenzburger Wald weitergeht, werden der Lenzburger Stadtrat und die Ortsgemeinde als Wald-Eigentümerin basierend auf den detaillierten Auswertungen des digitalen Meinungsbildungsprozesses diskutieren.

Vizeamann Schmid sieht sich in dem Versuch bestätigt, bei der Suche nach Ideen für die Zukunft des Lenzburger Waldes ein innovatives Experiment gewagt zu haben: «Wir haben eine breite und unabhängige Einsicht gewonnen, wie die Bevölkerung den Wald heute nutzt und wie sie ihn in Zukunft nutzen möchte und damit eine sehr gute Grundlage für die weitere politische Diskussion».