Herbsttagung
Schlussbericht zur Herbsttagung 2025 der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften (SGVW)
Wie viel Regelwerk braucht ein moderner Staat – und wann kippt es in Bürokratismus? Die SGVW hat dieses Spannungsfeld in drei Akten durchdekliniert: vom grossen Bild über Praxisprüfungen hin zur politischen Synthese. Die Erkenntnis: Nicht primär weniger, sondern bessere Bürokratie in der Schweiz – mit Mut, Dialog, Führung und einer Verwaltung, die ermöglicht statt verhindert.
Bürokratie: Fluch oder Segen? – Ein notwendiges Übel
Akt 1 – Auslegeordnung: Klischee, Realität und die richtige Frage
Bundeskanzler Viktor Rossi (SGVW-Präsident) eröffnete die Tagung mit einem nüchternen Realitätscheck. Bürokratiekritik hat Tradition – vom Römischen Reich bis zur Asterix-Satire und dem berüchtigten Passierschein A38 –, doch jenseits des Humors bleibt die Aufgabe ernst: In einer föderalen, vielfältigen Schweiz Prozesse so zu ordnen, dass sie dienen, nicht lähmen. Bürokratieabbau, so Rossi, ist eine Daueraufgabe, die Führung, gemeinsamen Willen und einen ausgeprägten Dienstleistungsgedanken in der Verwaltung braucht.
Bundesrat Beat Jans setzte den normativen Rahmen. Bürokratie – verstanden als Schriftlichkeit, Regelgebundenheit, Faktentreue, Evidenz, Kontinuität und Verlässlichkeit – ist kein Selbstzweck, sondern Bastion gegen Willkür. Verwaltung dient der Bevölkerung; Effektivität und Effizienz sind demokratische Pflicht. Gleichzeitig steigt der politische Takt: mehr Vorstösse, mehr Erwartungen, mehr Rechenschaft – so hat sich etwa die Zahl der parlamentarischen Vorstösse von 813 im Jahr 1996 auf 1769 im Jahr 2024 mehr als verdoppelt. Politik setzt den Rahmen, Verwaltung sichert seine rechtsstaatliche Anwendung. Aber die Verwaltung soll auch mutige Vorschläge machen und so aktiv am Rahmen mitarbeiten.
Aus Sicht der Wirtschaft betonte Dr. Patrick Dümmler (Ressortleiter Wirtschaftspolitik beim Schweizerischen Gewerbeverband) die Ambivalenz: Bürokratie schafft Stabilität und Planbarkeit – und verursacht zugleich Aufwand, besonders für KMU. Laut SECO-Bürokratiemonitor 2022 empfinden 60 Prozent der Unternehmen die Bürokratiebelastung als hoch; hochgerechnet verursachen Melde- und Bewilligungsverfahren rund 6 Milliarden Franken an Kosten pro Jahr. Dümmler plädierte für Zurückhaltung bei Neuregulierungen, für eine institutionalisierte Überprüfungspflicht bestehender Regeln und gegen Doppelspurigkeiten in der Digitalisierung. Regeln brauchen klare Ziele, Prozesse müssen schlank sein. Treiber der Bürokratie ist dabei nicht nur die Verwaltung oder die Politik, sondern auch sehr häufig auch grosse Unternehmen, die sich durch Vorschriften Wettbewerbsvorteile sichern und Markteintrittsbarrieren für kleinere Konkurrenten errichten. Darunter leiden dann meist nur die kleineren und mittleren Unternehmen.
Die wissenschaftliche Einordnung lieferte Prof. Dr. Adrian Ritz (Professor für Public Management, geschäftsführender Direktor Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) der Universität Bern): Er unterschied scharf zwischen Bürokratie (funktionale, gerechte Ordnung) und Bürokratismus (Regelübermass, Fehlsteuerung). Ursachen für Überlast liegen auf mehreren Ebenen – bei Aufgaben und Gesetzen, in politischen Anreizsystemen, in Organisationslogiken und Kulturen (u.a. Risikoaversion). Sein Plädoyer: intelligente Deregulierung statt Holzhammer. Werkzeuge heissen Zielnormen statt Detailnormen, Praxisprüfungen, Normenkontrolle, Ausgabenüberprüfungen – und in der Umsetzung „Jenga statt Motorsäge“. Im internationalen Vergleich der Bürokratien (Verhältnis der Staatsausgaben zur Regierungseffizienz) belegt die Schweiz einen Spitzenplatz: sehr effizient bei vergleichsweise geringen Kosten.
Akt 2 – Praxisprüfungen: Wenn Zielkonflikte konkret werden
Im Dialog Planungs- und Baurecht diskutierten Karin Bührer (Geschäftsleiterin Entwicklung Schweiz) und Regierungspräsident Dr. Martin Neukom (ZH) die klassische Spannung Tempo vs. Sorgfalt / Partizipation. Hohe Interessendichte, dichte Rechtsrahmen und viele Einsprachen verlangsamen Projekte. Die Digitalisierung kann hier nur dann echte Effizienzgewinne bringen, wenn sie konsequent gedacht wird: „digital only“ statt analog-digitaler Parallelwelten, maschinenlesbare Gesetzgebung und verbindliche Standards. Ebenso wichtig: der frühe Dialog zwischen Verwaltung, Bevölkerung und Projektträgern – um Spielräume klug zu nutzen, Missbräuche zu begrenzen und Vertrauen aufzubauen. Ein Treiber der Bürokratie ist, so Neukom, neben der zunehmenden Verrechtlichung auch die Anspruchshaltung der Einzelnen, die aus immer mehr Rechten individuelle Ansprüche ableiten.
Im Dialog Gesundheitsrecht stritten Thomas Christen (stv. Direktor Bundesamt für Gesundheit) und Dr. Fridolin Marty (Leiter Gesundheitspolitik bei economiesuisse) über den Zielkonflikt Sicherheit / Qualität vs. Effizienz / Kosten. Ein Teil der administrativen Last ist systemimmanent, weil Patientensicherheit und Transparenz ihren Preis haben. Gleichzeitig gibt es unnötige Doppelspurigkeiten – von überflüssigen Leistungen bis zu überbordenden Formularwelten –, die man gezielt abbauen kann. Einig war man sich, dass das KVG grundsätzlich eine gute Basis ist, aber gänzlich uneinig darin, ob es zu viel oder zu wenig Regulierung gibt. Was für Marty klar ist – zu viel Zeit für Administration und zu wenig für die Patienten – ist für Christen keineswegs eindeutig. Man wisse gar nicht recht, wie viel Zeit Ärztinnen und Ärzte tatsächlich für Administration aufwenden und ob diese Last tatsächlich primär durch staatliche Regulierung verursacht wird.
Akt 3 – Politische Synthese: Verwaltung zwischen Innovation und Realität
Im Abschluss-Panel Verwaltung zwischen Innovation und Realität diskutierten Nationalrätin Simone de Montmollin (FDP), Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (BE) und Staatsratspräsident Jean-François Steiert (FR) über Risikokultur, Verantwortung und die richtige Taktung von Veränderung. Die Erfahrung aus Krisen zeigt: Wo Ziele geteilt, Verantwortung übernommen und Fehlertoleranz erhöht wird, steigen Tempo und Wirkung – ohne Rechtsstaatlichkeit zu opfern. Gleichzeitig nehmen Einsprachen zu; zwischen kollektiven und individuellen Rechten sind Reibungen normal. Der Föderalismus bleibt Labor und Stolperstein: Er ermöglicht Lernen über Kantonsgrenzen hinweg, schafft aber auch Fragmentierung, die digitale Vorhaben wie das elektronische Patientendossier erschwert. Fazit des Panels: Ergebnisorientierung statt Prozessfixierung und Vertrauensaufbau als Voraussetzung für Tempo.
Die drei Lehren der Herbsttagung
Tagungsleiter Lukas Bruhin schloss den Kreis: Bürokratie ist „geronnene Politik“ – ein notwendiges Übel im besten Sinn des Wortes, in der Schweiz aber effektiv und effizient umgesetzt. Aus vier Stunden Debatte destillierte er drei Lehren für eine zukunftsfähige Verwaltung:
- Mut und Bewährung: Bürokratie darf nie Selbstzweck sein. Regeln brauchen regelmässige Tauglichkeitsprüfungen; in zentralen Verfahren gilt: wenn digital, dann konsequent digital – ohne teure Doppelstrukturen.
- Öffnung & Dialog – Digitalisierung ist ein Hebel, aber nicht das Allheilmittel. Entscheidend sind ko-kreative Prozesse der Gesetz- und Verordnungsgebung, die Praxiswissen früh einbinden (gutes Beispiel: dialogische Entwicklung der KI-Regulierung).
- Verwaltung als Ermöglicher – Statt nur zu kontrollieren, hilft die Verwaltung Lösungen zu finden: regelbasiert und zugleich lösungsorientiert. Dass das geht, zeigen auch hochregulierte Bereiche – bis hin zu Behörden wie Swissmedic. Dies setzt aber Führung voraus und Verantwortungsübernahme durch die Führungspersonen.
Der rote Faden der Herbsttagung
Die SGVW-Herbsttagung hat das gängige Schwarz-Weiss-Denken „Bürokratie = gut / schlecht“ hinter sich gelassen. Sie zeigte erstens, warum Bürokratie als Rechtsstaat-Infrastruktur unverzichtbar ist. Sie machte zweitens sichtbar, wo sie in Bürokratismus kippt – getrieben von politischen Anreizen, kultureller Risikoaversion und organisatorischer Überkoordination. Drittens übersetzte sie das in konkrete Handlungsfelder: Planen / Bauen und Gesundheit, zwei Bereiche mit besonders spürbaren Zielkonflikten. Und viertens zog sie eine politische Synthese, die nicht auf Maximalabbau setzt, sondern auf bessere Regeln, klügere Prozesse und messbare Effekte: weniger Durchlaufzeit, gleich hohe oder höhere Rechtsbeständigkeit, weniger Dokumentationspflicht, mehr medienbruchfreie Schritte – und eine öffentliche Verwaltung, die Stabilität sichert und Innovation ermöglicht.
Was bleibt?
Die Antwort auf die Leitfrage «(Amts-)Schimmel oder Zugpferd?» lautet: Beides – je nach Gestaltung. Bürokratie kann innovativ sein und zu einer Ermöglichungsplattform werden. Die Schweiz braucht eine Verwaltung, die Recht garantiert, Vertrauen stärkt, Innovation ermöglicht und Verantwortung trägt. Der Weg dorthin führt über Mut, Dialog, Führung und eine Ermöglichungs-Haltung – und über konsequente Digitalisierung dort, wo sie echten Nutzen bringt. Genau das hat die Tagung gezeigt: Bürokratie ist nicht per se ein Gegner von Innovation, sondern idealerweise eine Ermöglichungsplattform.
Ein besonderer Dank gilt den Referent:innen und Diskutant:innen sowie allen Teilnehmenden, die durch ihre Beiträge und Fragen die Tagung bereichert haben.
Tagungspartner
Wir danken unseren Partnern Die Post, Fabasoft Schweiz, KPMG, Microsoft, Novo Business, dem Smart Government Lab der Universität St. Gallen, T-Systems, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und dem Institut für Verwaltungs-Management (ZHAW) für Ihre Unterstützung!








Partner der SGVW
Impressionen








Präsentationen
- Präsentation 1 – Bundeskanzler Viktor Rossi
- Rede Bundesrat Beat Jans
- Präsentation 2 – Dr. Patrick Dümmler
- Präsentation 3 – Prof. Dr. Adrian Ritz

